Im malerischen Spreewald, dort, wo die Fließe träge dahingleiten und die Erlen am Ufer rauschen, lebte in den 1980er-Jahren die Familie Glücksberg. Vater Karl, ein Kahnfahrer mit Herz und Humor, Mutter Martha, die den Haushalt mit Liebe und eiserner Hand führte, und ihre beiden Kinder, der blonde Peter und die rotzfreche Lotte. Die Glücksbergs waren eine Vorzeigefamilie in Lübbenau, bekannt für ihre Gastfreundschaft und die üppigen Mahlzeiten, die Martha auf den Tisch zauberte. Doch hinter der Fassade der kulinarischen Glückseligkeit verbarg sich ein kleines, aber wiederkehrendes Drama: Peters und Lottes äußerst wählerischer Gaumen.
Mutter Martha war oft schier am Verzweifeln. Sie kochte mit Leidenschaft, traditionell und herzhaft, wie es sich für eine Spreewälderin gehörte. Doch die Reaktionen ihrer Sprösslinge waren oft die gleichen: Ein gerümpftes Näschen, ein skeptischer Blick, gefolgt von einem kategorischen „Das ess ich nicht!“.
Sülze, die in vielen Haushalten der DDR als Delikatesse galt, sorgte bei den Kindern für blankes Entsetzen. „Das wackelt ja!“, rief Lotte. „Und die Stücke da drin!“, ergänzte Peter, mit dem Finger auf die feinen Fleischeinlagen zeigend. Marthas sorgfältig zubereiteter fettiger Schweinebraten – ein Sonntagsklassiker – wurde mit entrüsteten Blicken quittiert. „Zu fett!“, kam es unisono. Und wenn Martha sich an etwas Wagegeres heranwagte, wie Rinderzunge oder Leber, war der Kampf schon vorprogrammiert. „Das ist ja kein richtiges Fleisch!“, protestierte Peter, während Lotte schon mal präventiv Würgereize simulierte.
Martha seufzte oft. Was sollte sie tun? Sie wollte ihre Kinder gut ernähren, aber auch den Frieden am Tisch wahren. Drohungen und Ermahnungen halfen selten. Doch am Ende, wenn die Verzweiflung am größten war und der Hunger der Kinder nicht länger ignoriert werden konnte, wusste Martha immer eine einfache, aber geniale Lösung. Eine Lösung, die sich aus den unzähligen Kneipenbesuchen mit Papa Karl ergeben hatte.
Karl nahm seine Kinder gerne mit in die Dorfkneipe, wenn er abends nach der Arbeit auf ein Feierabendbier einkehrte. Dort gab es keine aufwendigen Speisekarten, sondern ehrliche, einfache Imbiss-Häppchen, die man zum Bier reichte. Und genau diese einfachen Happen waren die Glücksbergsche Wunderwaffe: die „Stille Sibylle„.
Die „Stille Sibylle“ war kein kompliziertes Gericht, sondern ein kalter Snack, der alle Geschmacksnerven der Kinder ansprach, ohne sie zu überfordern. Er bestand aus nur wenigen, aber effektiven Komponenten:
- Brot: Meist eine Scheibe einfaches, gutes Roggenmischbrot, manchmal auch Toastbrot. Der feste, ehrliche Untergrund.
- Makrelenfilet (aus der Dose): Der Fisch war mild, leicht salzig und – entscheidend – die Kinder kannten und mochten ihn. Kein Gekröse, keine Gräten, einfach nur Filet in Öl oder Tomatensauce.
- Gekochtes Ei mit Senf: Ein hartgekochtes Ei, in Scheiben geschnitten, dazu ein Klecks mittelscharfer Senf. Die Eier waren vertraut, der Senf gab eine angenehme Würze, die nicht zu scharf war.
- Handkäse: Ein kleiner Würfel vom würzigen Handkäse, der für die nötige Prise Herbheit sorgte und den „Erwachsenen“-Anspruch des Snacks unterstrich.
- Gurke: Frische Spreewälder Gurke, in Scheiben oder Stiften, sorgte für den knackigen, erfrischenden Biss und eine willkommene Saftigkeit.
Wenn Martha die „Stille Sibylle“ auf kleinen Tellerchen anrichtete, verstummten Peter und Lotte wie auf Kommando. Keine Klagen, kein Murren. Nur das leise Schmatzen, während sie genüsslich ihre „Sibylle“ verputzten. Es war der kalte Snack, der immer ging, ein Anker der Bekömmlichkeit in einem Meer von vermeintlich ungenießbaren Köstlichkeiten.
Die „Stille Sibylle“ wurde zum festen Ritual, zur Notlösung, zum Retter der Familienmahlzeit. Sie bewies, dass man nicht immer aufwendig kochen muss, um glückliche Gesichter am Tisch zu sehen. Manchmal ist es die Einfachheit, die Vertrautheit und ein kleines Augenzwinkern in Richtung „Kneipen-Kultur“, die den größten Erfolg bringt. Und so lachten die Glücksbergs weiter, im Herzen des Spreewaldes, gestärkt von einer Mahlzeit, die so unkompliziert und liebenswert war wie ihre Erfinderin, Mutter Martha.
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