Das Kinderspiel „Reise nach Jerusalem“ ist ein Klassiker auf Geburtstagsfeiern, Schulfesten und Sommerlagern. Kinder kreisen ausgelassen um Stühle, die Musik stoppt abrupt, und dann bricht das Chaos aus, wenn alle versuchen, einen Platz zu ergattern. Am Ende scheidet immer einer aus, bis ein Sieger übrig bleibt. Doch kaum jemand, der das Spiel spielt, kennt die Herkunft oder die Bedeutung seines Namens. Und das hat gute Gründe.
Woher kommt das Spiel „Reise nach Jerusalem“?
Die genaue Entstehung des Spiels „Reise nach Jerusalem“ ist nicht eindeutig belegt, aber es gibt verschiedene Theorien über seinen Ursprung, die oft in einer Zeit angesiedelt werden, in der die Thematik der Pilgerfahrt oder Migration eine große Rolle spielte.
Eine der prominentesten Theorien besagt, dass der Name und das Spiel auf die Kreuzzüge im Mittelalter zurückgehen könnten. Insbesondere der sogenannte „Kinderkreuzzug“ von 1212 wird hier oft genannt. Tausende Kinder und Jugendliche machten sich damals auf den Weg nach Jerusalem, getrieben von religiösem Eifer und der Hoffnung, das Heilige Land zu befreien. Viele von ihnen starben jedoch unterwegs an Hunger, Krankheiten oder wurden in die Sklaverei verkauft. Die Idee des Spiels, bei dem immer weniger Plätze zur Verfügung stehen und Menschen ausscheiden, könnte metaphorisch für das Schicksal dieser Pilger stehen, die ihr Ziel nicht erreichten und auf der Reise „verloren gingen“.
Eine andere, weniger dramatische Vermutung bezieht sich auf die zionistische Migration nach Palästina im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Hierbei ging es um die beschränkten Plätze auf den Auswandererschiffen, die ins Heilige Land führen sollten. Auch hier passt das Prinzip des „Platzmangels“ und des Ausscheidens.
Es gibt auch Vermutungen, dass das Spiel eine allgemeine Allegorie auf Pilgerreisen, Flucht oder den Kampf um begrenzte Ressourcen darstellen könnte, bei dem nicht alle ihr Ziel erreichen oder einen sicheren Platz finden.
Warum heißt es „Reise nach Jerusalem“?
Der Name „Reise nach Jerusalem“ ist vor allem im deutschsprachigen Raum und auf den Philippinen gebräufig. Die genaue Etymologie ist, wie erwähnt, umstritten. Die Verbindung zu Jerusalem deutet jedoch stark auf einen historischen Kontext hin, in dem die Stadt eine zentrale, oft auch umkämpfte und schwer erreichbare Bedeutung hatte. Die „Reise“ symbolisiert dabei den Weg zu diesem Ziel, der nicht für jeden erfolgreich ist.
Warum erklärt man Kindern den Hintergrund nicht?
Die Gründe, warum Kindern der mögliche Hintergrund des Spiels – insbesondere die Verbindung zu den Kreuzzügen oder Migration und Vertreibung – meist nicht erklärt wird, liegen auf der Hand:
- Die Thematik ist zu düster und komplex: Kinder sollen spielen, Spaß haben und sich bewegen. Die Geschichte von Kreuzzügen, Tod, Sklaverei oder Flucht und Verdrängung ist eine schwere, traumatische und moralisch komplexe Thematik, die für die kindliche Psyche nicht geeignet ist und den spielerischen Charakter komplett zerstören würde.
- Verlust der Unbeschwertheit: Das Spiel lebt von seiner Einfachheit und seinem kompetitiven, aber oft auch humorvollen Charakter. Eine Konfrontation mit der potenziellen historischen Bedeutung würde die Unbeschwertheit nehmen und das Spiel mit einer negativen Konnotation belegen.
- Unklarheit der Herkunft: Da die genaue Herkunft des Namens nicht gesichert ist, gibt es auch keine „offizielle“ oder unbestreitbare Erklärung, die man vermitteln könnte.
- Fokus auf das Spielprinzip: Für das Spielen selbst ist der Hintergrund völlig irrelevant. Es geht um Bewegung, Reaktion und den Spaß am Wettbewerb.
Das Spiel hat sich im Laufe der Zeit von seinen (vermuteten) historischen Wurzeln gelöst und ist zu einem reinen, unterhaltsamen Geschicklichkeitsspiel geworden.
Andere Namen in anderen Ländern
Ihre Beobachtung, dass das Spiel in anderen Ländern völlig andere Namen hat, ist absolut korrekt und unterstreicht die kulturelle Spezifität des deutschen Namens. Weltweit ist die geläufigste Bezeichnung eine rein deskriptive, die sich auf die Mechanik des Spiels bezieht:
- Englischsprachiger Raum (USA, Kanada, UK, Irland): „Musical Chairs“ (Musikalische Stühle). Dies ist der am weitesten verbreitete Name und beschreibt direkt, was passiert: Man bewegt sich um Stühle, während Musik spielt.
- Israel: Kurioserweise heißt das Spiel in Israel selbst „Kis’ot Musikaliim“ (Musikalische Stühle) und nicht „Reise nach Jerusalem“.
- Skandinavische Länder (z.B. Schweden): „Stürmische See“ (Stormiga havet). Hier wird eine Metapher aus der Seefahrt verwendet, bei der man in einem Sturm versucht, einen sicheren Platz zu finden.
- Rumänien: „Vöglein such dein Nest“. Auch hier eine metaphorische Beschreibung, die das Suchen eines sicheren Ortes betont.
- Österreich und Schweiz: Oft „Sesseltanz“ oder „Sesselpolka“.
- Ostdeutschland: Auch hier gab es Varianten wie „Stuhltanz“ oder „Stuhlpolka“.
- Frankreich, Italien, Griechenland, Thailand: Meist ebenfalls eine direkte Übersetzung von „Musikalische Stühle“.
Diese unterschiedlichen Namen zeigen, wie ein und dasselbe Spielprinzip in verschiedenen Kulturen mit unterschiedlichen Bildern und Metaphern verknüpft wird, wobei die deutsche Bezeichnung mit ihrer potenziell düsteren historischen Anspielung eine Ausnahme darstellt. Letztlich bleibt „Reise nach Jerusalem“ ein zeitloser Party-Klassiker, dessen tiefere Bedeutung im Laufe der Zeit in den Hintergrund getreten ist – zum Wohl der kindlichen Unbeschwertheit.
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