Liebe Ossis, liebe Ex-DDR-Bürgerinnen und Bürger, liebe Leidensgenossen der westdeutschen Geschichtsnachhilfe,
Hand aufs Herz: Habt ihr euch auch schon mal gefragt, wie es kommt, dass so erstaunlich viele „Wessis“ scheinbar eine derart detaillierte und unerschütterliche Expertise über das Leben in der Deutschen Demokratischen Republik besitzen? Eine Expertise, die sie nur allzu gerne und ungefragt mit uns, den eigentlichen Zeitzeugen, teilen? Manchmal hat man das Gefühl, die Hälfte der Bundesrepublik muss in den Achtzigern heimlich untergetaucht im Interhotel am Alexanderplatz gewohnt oder im Schichtbetrieb im Braunkohletagebau gearbeitet haben. Anders lässt sich diese penetrante Besserwisserei ja kaum erklären, oder?
Die „Stasi 2.0“ der Erinnerung: Westdeutsche Insider packen aus
Es ist schon kurios. Da hat man selbst Jahrzehnte in diesem Staat gelebt, seine Eigenheiten erfahren, seine Absurditäten erduldet und seine kleinen Freuden genossen – und dann kommt da jemand aus dem Westen und erklärt einem, wie es „wirklich“ war. Oft mit einer solchen Überzeugung und Detailgenauigkeit, dass man fast geneigt ist zu fragen: „Entschuldigen Sie, waren Sie nicht mein Klassenlehrer in der POS ‚Karl Marx‘?“
Die Palette der westdeutschen DDR-Experten ist dabei breit gefächert:
- Der Hobby-Historiker: Hat gefühlt jede Doku auf ARD und ZDF dreimal gesehen und zitiert mit Vorliebe aus staubigen Archiven. Er weiß haargenau, wie viele Sorten Klopapier es gab (nämlich genau eine, und die war Sandpapier!), und kann die genaue Wartezeit für einen Trabant auf die Sekunde genau bestimmen (15 Jahre, 3 Monate und 2 Tage, wenn man den richtigen Onkel beim ABV kannte).
- Der Politologe vom Stammtisch: Hat natürlich schon immer gewusst, dass das ganze System zum Scheitern verurteilt war (was ja auch stimmt, aber die Erkenntnis ist jetzt auch nicht brandneu). Er erklärt einem gerne die Feinheiten der SED-Ideologie, meist garniert mit Anekdoten von seinem letzten Ostalgie-Trip nach Sachsen-Anhalt.
- Der „Ich hab’s ja immer gesagt“-Besserwessi: War vielleicht einmal kurz an der Transitstrecke und hat da einen genervten Grenzsoldaten gesehen. Das reicht natürlich aus, um das gesamte DDR-Regime als eine einzige große Unrechtsmaschinerie zu brandmarken (was in vielen Punkten auch stimmt, aber die Nuancen gehen dabei oft verloren).
- Der „Eigentlich war ja alles ganz nett“-Romantiker (seltene Spezies): Hat vielleicht mal Urlaub am Balaton gemacht und erinnert sich vage an freundliche Menschen und günstiges Bier. Er versucht dann, die negativen Aspekte herunterzuspielen, was bei den echten DDR-Geschädigten natürlich für hochgezogene Augenbrauen sorgt.
Die große Frage: Woher kommt dieses Wissen?
Die naheliegendste Erklärung – die geheime Invasion der „Wessis“ – klingt natürlich absurd, hat aber einen gewissen humoristischen Reiz. Stell dir vor: Nachts, wenn die Ossis friedlich schlummerten, krochen Heerscharen von Westdeutschen über die innerdeutsche Grenze, um inkognito das wahre Leben im Arbeiter- und Bauernstaat zu studieren. Sie tarnten sich als Touristen, Verwandtschaftsbesucher oder vielleicht sogar als besonders engagierte FDJ-Mitglieder (die Tarnung wäre perfekt gewesen!). Sie lauschten Gesprächen in HO-Gaststätten, beobachteten die Warteschlangen vor den Konsum-Läden und machten sich fleißig Notizen über die Feinheiten des Trabant-Fahrgefühls. Nach der Wende kehrten sie dann mit einem reichen Erfahrungsschatz in den Westen zurück – bereit, den unwissenden Ossis die Welt zu erklären.
Die wahrscheinlichere (aber weniger amüsante) Wahrheit:
Die Realität ist natürlich komplexer und weniger unterhaltsam. Das westdeutsche Bild der DDR wurde maßgeblich durch die Medien geprägt – oft durch Berichte von Flüchtlingen, kritische Analysen und die ideologische Abgrenzung während des Kalten Krieges. Nach der Wende kamen dann noch unzählige Dokumentationen, Bücher und Zeitzeugenberichte hinzu.
Das Problem ist oft nicht das Vorhandensein von Wissen, sondern die Art und Weise, wie es präsentiert und interpretiert wird. Ohne die persönliche Erfahrung, ohne die emotionalen und sozialen Kontexte des Lebens in der DDR, bleibt dieses Wissen oft abstrakt und oberflächlich. Es fehlt das „gefühlte“ Verständnis, die Nuancen und die Grautöne.
Die humorvolle Schlussfolgerung: Lasst uns die Perspektiven mischen!
Vielleicht sollten wir einfach annehmen, dass es tatsächlich eine geheime Wessi-Invasion gegeben hat. Vielleicht waren sie alle mal kurz da, haben sich umgesehen und sich dann eine unerschütterliche Meinung gebildet. Oder vielleicht sollten wir einfach mit einem Augenzwinkern kontern: „Ach ja, stimmt. Und ich erinnere mich noch gut an Ihren undercover-Einsatz im Jugendclub ‚Die Rakete‘!“
Letztendlich wäre es doch viel fruchtbarer, wenn wir aufhörten, uns gegenseitig die Vergangenheit erklären zu wollen, und stattdessen anfingen, einander zuzuhören. Die „Wessis“ können von den Erfahrungen der „Ossis“ lernen, und die „Ossis“ können vielleicht die gesamtdeutsche Perspektive besser verstehen. Denn die Wahrheit über die DDR ist vielschichtig und kann nicht auf ein paar plakative Schlagzeilen oder vermeintliche „Insider“-Informationen reduziert werden – egal, woher diese auch immer stammen mögen. Und wer weiß, vielleicht entdecken wir ja doch noch den einen oder anderen alten Stasi-Ausweis mit westdeutschem Namen im Archiv… die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt!
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