Es war ein lauer Sommerabend im Jahr 1979, als Familie Glücksberg in ihren treuen, mit Urlaubsträumen beladenen Trabant 601 kletterte. Vater Herbert, die Hände fest am Lenkrad, strahlte Zuversicht aus, während Mutter Inge die letzten Provianttaschen verstaut hatte. Im Fond mümmelten sich die beiden Kinder, Klein-Heike und der freche Thomas, schon halb schlafend in ihre Kissen. Das Ziel? Der sonnige Balaton, Ungarns berühmtes Meer, ein Synonym für Sommer, Freiheit und unbeschwerte Tage.
Die Fahrt begann verheißungsvoll. Das Radio knisterte leise Schlager der Stunde, und die Abendsonne tauchte die vorbeiziehende Landschaft in ein warmes, goldenes Licht. Die tschechoslowakische Grenze wurde passiert, und Herbert fuhr stetig gen Süden. Alles lief nach Plan, die Stimmung war ausgelassen.
Doch hinter Brünn, als die Nacht ihre tiefsten Schatten warf, schlug das Wetter jäh um. Ein gewaltiges Unwetter brach über sie herein. Der Himmel öffnete seine Schleusen, Blitze zuckten gespenstisch über die Felder, und der Regen peitschte so heftig gegen die Windschutzscheibe, dass Herberts Scheibenwischer kaum hinterherkamen. In diesem Chaos, bei kaum noch sichtbaren Wegweisern, verpassten sie eine Abfahrt. Herbert, angespannt und genervt, versuchte zu korrigieren, geriet auf eine holprige Landstraße, und dann – ein dumpfer Knall, gefolgt von einem eigenartigen Schlingern. Ein platter Reifen.
Herbert fluchte leise vor sich hin, während Inge versuchte, die plötzlich hellwachen und ängstlichen Kinder zu beruhigen. Es war stockfinster, der Regen prasselte immer noch, und die Uhr zeigte kurz nach zwei Uhr morgens. Mitten im Nichts. Keine Tankstelle, kein Licht, nur dunkle Felder und der Geruch von feuchter Erde. Der Reifenwechsel im strömenden Regen war eine wahre Tortur. Herbert war durchnässt, müde und der Frust saß ihm tief in den Knochen. An Weiterfahren war nicht zu denken.
„Wir müssen hier zelten“, stellte Herbert schließlich fest, seine Stimme klang resigniert. Inge nickte tapfer. Der Gedanke, mitten in der Nacht, im Schlamm, ein Zelt aufzubauen, war alles andere als verlockend. Doch mit vereinten Kräften – selbst die Kinder halfen, wo sie konnten, indem sie die Taschenlampe hielten – stand das kleine Zelt bald schief und krumm, aber immerhin, es stand. Müde krochen sie hinein, die Nässe und der Ärger krochen mit. Die Stimmung war am Tiefpunkt.
Mutter Inge, die stets für die Moral der Truppe zuständig war, spürte die aufkommende Resignation. „Das geht so nicht“, dachte sie sich. „Wir sind im Urlaub, und Abenteuer gehören dazu!“ Sie begann, im Halbdunkel des Zeltes den Reisevorrat zu prüfen, den sie so sorgfältig gepackt hatte. Sie kramte, tastete und fand genau das Richtige, um die Stimmung zu retten.
„Wer hat Lust auf Stille Sibylle?“, fragte sie mit überraschend fröhlicher Stimme. Herbert und die Kinder blickten sie fragend an. Stille Sibylle, das war Ingies kreativer Name für ein typisches, kaltes Kneipenessen, das man in ihrer Heimat oft zu Bier bekam. Und Inge war bestens vorbereitet.
Sie zauberte aus der Kühltasche ein kleines Festmahl hervor: Da waren dicke Scheiben Brot, darauf großzügig belegt mit saftigem Makrelenfilet. Daneben lagen hartgekochte Eier, halbiert und perfekt bestrichen mit scharfem Senf. Es gab würzigen Handkäse, der seinen ganz eigenen Charme hatte, und natürlich, die unverzichtbaren, knackigen eingelegten Gurken.
Trotz der widrigen Umstände, der Dunkelheit und der Müdigkeit, begannen sie zu essen. Das einfache, aber unglaublich leckere Mahl wirkte Wunder. Der salzige Fisch, die scharfe Senfnote, der würzige Käse und die erfrischende Gurke – jeder Bissen war eine kleine Offenbarung mitten im mährischen Niemandsland. Das knusprige Brot knirschte, die Makrele schmeckte nach Meer und Freiheit, und die eingelegten Gurken waren die perfekte Ergänzung.
Langsam wich der Frust der Müdigkeit und einer stillen Zufriedenheit. Die Kinder kicherten leise, als Thomas eine Gurkenscheibe wie einen Monokel ans Auge hielt. Sogar Herbert musste lächeln. Hier, unter einem zerschlissenen Zelt, mitten in einem unerwarteten Unwetter, weit entfernt vom geplanten Balaton, hatten sie ein unverhofftes kulinarisches Highlight erlebt.
Die Stille Sibylle hatte nicht nur den Hunger gestillt, sondern auch die Stimmung gerettet. Sie erinnerte sie daran, dass Abenteuer oft dort lauern, wo man sie am wenigsten erwartet, und dass die schönsten Momente manchmal aus den größten Pannen entstehen. Als sie schließlich einschliefen, war das Rauschen des Regens auf dem Zelt wie eine Wiegenlied, und die Vorfreude auf den Balaton, wenn auch verzögert, war wieder da – gestärkt durch ein nächtliches Abenteuer und die Gewissheit, dass mit Mutter Inge und ihrer „Stille Sibylle“ jedes Problem zu bewältigen war.
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