Es ist ein Bild, das sich in vielen Familien abspielt, ein stilles Drama zwischen den Generationen, das sich oft am gedeckten Tisch im Restaurant entfaltet. Opa Werner, gestandener Sachse aus dem beschaulichen Elsteraue, knabbert nachdenklich an seinem Zwieback. Gegenüber, im gleißenden Licht der Tischlampe, sitzt Anna Sophie, seine Enkelin. Und während Opa Werner noch von Sülze und Flecke träumt, muss er sich eingestehen: Seine Anna Sophie ist nicht mehr die, die er kannte. Sie ist… evolviert.
Der vegane Kreuzzug am Stammtisch
Kaum hat der Kellner die Speisekarte gereicht, beginnt die Performance. „Ich bin Veganerin, das müssen Sie wissen“, verkündet Anna Sophie mit einer Stimmfarbe, die Opa Werner an die Durchsagen im Supermarkt erinnert – klar, prägnant, fast schon zu perfekt artikuliert. Jeder Vokal sitzt, jeder Konsonant schnalzt. Es ist, als würde sie gerade die Vorzüge des neuesten Bio-Müslis anpreisen. Opa Werner, der noch vor Kurzem dachte, „vegan“ sei ein tschechisches Wort für „Gemüse“, nickt milde. Er erinnert sich dunkel an die Zeit, als Anna Sophie noch begeistert Bockwurst aß. Das waren noch Zeiten.
Das Echo der Projekte ohne Ergebnis
Zwischen den Gängen schweift Anna Sophies Konversation ins Esoterische ab. Sie spricht von „nachhaltigen Projekten, die leider noch nicht ganz zur Umsetzung gekommen sind, aber das Bewusstsein fördern“. Von „Yoga-Therapien“, die nicht nur den Körper, sondern auch die „innere Mitte“ transformieren. Und dann, der krönende Abschluss: die dreijährige Weltreise mit Freunden. Opa Werner stellt sich vor, wie er mit seinen Kumpels nach dem Krieg mal für drei Jahre „weg“ war – das hieß damals aber eher „Kriegsgefangenschaft“. Anna Sophie hingegen war in Bali, Patagonien und hat „irgendwo“ den Sinn des Lebens gefunden, der sich Opa leider nicht erschließt, wenn er über das Wetter und die Ernte redet.
Der Dialekt-Schock: Wenn die Heimat im Supermarkt ertrinkt
Was Opa Werner aber am meisten verstört, ist der Dialekt. Oder besser gesagt: Das Fehlen desselben. Einst sprach Anna Sophie einen charmanten Mix aus Sächsisch und der lokalen Mundart, gespickt mit einem herzhaften „Nu!“ oder einem fragenden „Fei?“. Jetzt ist alles weg. Jedes Wort ist glatt poliert, jeder Satzbau lupenrein, jeder Tonfall wie aus dem Handbuch „Sprecherziehung für angehende Influencer“. Es ist der Tonfall, den man hört, wenn man im Einkaufszentrum steht und eine freundliche Stimme aus den Lautsprechern die neuesten Angebote anpreist. Oder eben, wie Opa denkt, „als ob man eine Werbung eines Supermarktes hört.“
Manchmal blitzt noch ein Hauch des alten Klanges durch, wenn sie sich verspricht oder genervt ist. Aber meistens ist es die perfekte, hochdeutsche Fassung ihrer selbst. Die Enkelin, die einst auf Opas Schoß saß und „Ärbärn“ statt Erdbeeren sagte, ist nun ein wandelnder Werbespot für ein globales Bewusstsein, das im lokalen Gasthof nur bedingt Anklang findet.
Ein Loblied auf die Anpassungsfähigkeit
Opa Werner seufzt. Er versteht es nicht ganz, aber er liebt seine Enkelin. Und vielleicht ist es ja der Preis des Fortschritts. Die Welt dreht sich weiter, und mit ihr die Dialekte, die Essgewohnheiten und die Definition von „Projekten“. Vielleicht ist Anna Sophie ja glücklich mit ihrem veganen Lebensstil, ihren Therapie-Yogas und ihren unvollendeten Weltverbesserungsplänen. Und vielleicht ist es ja auch okay, dass sie klingt wie die Stimme, die einen im Supermarkt daran erinnert, die Sonderangebote in der Tiefkühlabteilung nicht zu vergessen.
So saß Opa Werner mit seiner Familie im Restaurant und hörte dem angeregten Diskurs immer weniger zu. Er brauchte einen kleinen Happen, nicht Großes. Er schaute sich um und entdeckte eine Tischkarte mit einem Snackangebot „Stille Sibylle“. Opa Werner erinnerte sich, dass er diese Stille Sibylle als junger Mann oft gegessen hat. Er war damals Schallplattenunterhalter und bekam diesen Snack oft nach einem erfolgreichen Tanzabend.
Am Ende des Tages ist sie immer noch Anna Sophie. Nur eben eine Anna Sophie, die ein bisschen mehr nach Bio-Joghurt und weniger nach Sülze riecht. Und das muss man als Opa wohl oder übel akzeptieren. Oder sich einfach noch ein Stückchen Zwieback nehmen. Der spricht wenigstens den gleichen Dialekt wie immer.
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