Die gehobene europäische Gastronomie um 1860 war eine faszinierende Welt, die sich in einem Übergang befand. Die „Haute Cuisine“, wie wir sie heute kennen, wurde maßgeblich von Größen wie Marie-Antoine Carême (frühes 19. Jahrhundert) und dem aufstrebenden Auguste Escoffier (der in dieser Zeit seine Karriere begann) geprägt. Es war eine Küche, die Opulenz, Präsentation und die Beherrschung komplexer Techniken zelebrierte.
Hier ist ein umfassender Überblick über typische Gerichte und Merkmale der gehobenen europäischen Gastronomie um 1860:
Das Jahr 1860 fällt in eine Epoche, die von gesellschaftlichen Umbrüchen, Industrialisierung und einem wachsenden Wohlstand in Teilen Europas geprägt war. Dies spiegelte sich auch in der Gastronomie wider, insbesondere in der französischen Haute Cuisine, die ihren Höhepunkt erreichte und als Vorbild für die gehobene Küche des gesamten Kontinents galt. Es war eine Zeit des Überflusses, der detaillierten Zubereitung und der kunstvollen Präsentation.
1. Die Ära der „Grande Cuisine“ und ihrer Architekten
Um 1860 dominierte die Philosophie der „Grande Cuisine“, die maßgeblich von Küchenrevolutionären wie Marie-Antoine Carême (1784-1833) geformt wurde. Obwohl Carême bereits verstorben war, lebte sein Vermächtnis in den Küchen der Adelshäuser, gehobenen Restaurants und Hotels weiter. Er war bekannt für:
- Architektonische Patisserie: Carême war ein Meister der „Pièces Montées“ – riesige, essbare Skulpturen aus Zucker, Teig oder Marzipan, die oft ganze Tische schmückten und wahre Kunstwerke waren.
- Komplexe Saucen: Er legte den Grundstein für die klassischen französischen Saucen, darunter die „Mutter-Saucen“ (Béchamel, Velouté, Espagnole, Hollandaise und Tomatensoße), die als Basis für unzählige weitere Saucen dienten.
- Inszenierung: Das Essen war ein Spektakel. Oft gab es mehrere Gänge, die gleichzeitig auf dem Tisch standen (Service à la française), bevor sich allmählich der „Service à la Russe“ (Gerichte werden nacheinander serviert) durchsetzte.
Der junge Auguste Escoffier (geb. 1846) begann um diese Zeit seine Ausbildung und sollte später die „Cuisine Classique“ und die moderne Restaurantküche revolutionieren, indem er die Opulenz Carêmes etwas reduzierte und die Organisation der Küche effizienter gestaltete (das Brigade-System). Doch 1860 waren die Küchen noch von der opulenten Carême-Tradition geprägt.
2. Typische Gerichte und Zutaten der gehobenen Küche
Die Gerichte waren oft fleischlastig, reichhaltig und aufwendig in der Zubereitung. Frische, hochwertige Zutaten waren essentiell, und die Verwendung von Luxusprodukten war ein Statussymbol.
a) Fleisch und Geflügel:
- Wild: Haselhuhn, Rebhuhn, Fasan, Hirsch und Wildschwein waren sehr beliebt, oft gebraten, geschmort oder als Pasteten zubereitung.
- Tournedos Rossini: Ein Gericht, das um diese Zeit populär wurde und Rinderfilet mit Gänseleber (Foie Gras) und Trüffeln kombiniert, oft mit einer Madeirasauce.
- Rindfleisch: Zarte Cuts wie Filet oder Roastbeef, oft mit reichhaltigen Saucen.
- Kalbfleisch: Besonders beliebt waren Kalbsbries (Ris de veau) und Kalbszunge, die oft aufwendig zubereitet wurden.
- Geflügel: Hühner (Poularde), Enten und Gänse, oft gefüllt oder mit cremigen Saucen serviert.
- Poularde en Vessie: Ein Klassiker, bei dem ein Huhn in einer Schweineblase gegart wird, um die Säfte und Aromen einzuschließen.
b) Fisch und Meeresfrüchte:
- Süßwasserfische: Hecht, Karpfen und Forelle, oft in Buttersauce oder mit Kräutern.
- Seefische: Turbot (Steinbutt), Seezunge und Kabeljau.
- Turbotin au gratin, coulis d’écrevisses: Steinbutt gratiniert mit Flusskrebs-Coulis.
- Flusskrebse und Hummer: Galten als exquisite Delikatessen und wurden oft in Saucen oder als Hauptbestandteil von Vorspeisen verwendet.
c) Suppen und Vorspeisen:
- Consommés: Klare, kräftige Brühen aus Fleisch oder Geflügel, oft mit feinsten Einlagen (z.B. Gemüsestreifen, kleine Klößchen, Eierstich).
- Cremesuppen: Samtige Suppen, oft auf Basis von Gemüse oder Geflügel, mit Sahne verfeinert.
- Pasteten und Terrinen: Aufwendige Fleisch- oder Wildpasteten in Teigmantel oder Terrinen aus Gänseleber.
- Salate: Der erwähnte Salat Olivier war ursprünglich ein Luxussalat mit Haselhuhn, Kalbszunge, Kaviar und Flusskrebsen – weit entfernt von der heutigen Kartoffelsalat-Variante.
d) Beilagen:
- Kartoffeln: In vielfältigen Zubereitungsarten: Püree, Gratins (z.B. Gratin Dauphinois), Pommes Soufflées (aufgeblasene Pommes Frites).
- Gemüse: Spargel, Artischocken, Morcheln (als Luxusgemüse), oft in Butter geschwenkt oder mit Hollandaise.
- Reis: Als Pilaw oder Risotto-ähnliche Zubereitungen.
e) Saucen und Fonds:
- Saucen waren das Rückgrat der gehobenen Küche. Sie waren oft komplex und erforderten stundenlanges Reduzieren von Fonds (Basisbrühen) aus Knochen und Gemüse. Man unterschied zwischen braunen Saucen (z.B. Demi-Glace, Espagnole), weißen Saucen (z.B. Béchamel, Velouté) und emulgierten Saucen (Hollandaise, Mayonnaise).
f) Desserts und Patisserie:
- Soufflés: Leichte, luftige Aufläufe, oft mit Früchten oder Schokolade.
- Eiscremes und Sorbets: Oft in kunstvollen Formen präsentiert.
- Gelees und Cremes: Aus Früchten oder Wein, oft in Schichten angerichtet.
- Feine Backwaren: Petit Fours, Eclairs, Croquembouches (Kegel aus Brandteigkrapfen).
- Pêche Melba: Obwohl erst später von Escoffier populär gemacht (um 1890), waren ähnliche Kombinationen aus Früchten, Eis und Saucen denkbar.
3. Merkmale der gehobenen Gastronomie um 1860
- Service à la Russe vs. Service à la Française: Der Übergang vom gleichzeitigen Auftragen aller Gänge (à la française) zum sukzessiven Servieren der Speisen (à la Russe) revolutionierte das Esserlebnis und die Küchenorganisation.
- Mangel an Kühlmöglichkeiten: Frische war ein Luxus. Der Zugang zu Eis war begrenzt, was die Lagerung von Lebensmitteln erschwerte und die Bedeutung der täglichen Lieferung frischer Zutaten unterstrich.
- Französisch als Lingua Franca: Die französische Sprache dominierte die Menükarten und die Kommunikation in den Küchen der gehobenen Gastronomie in ganz Europa.
- Hierarchie in der Küche: Die Brigade de Cuisine, obwohl von Escoffier später formalisiert, begann sich bereits herauszubilden, mit klar definierten Rollen für verschiedene Köche (Saucier, Rôtisseur, Pâtissier etc.).
- Opulenz und Prunk: Das Essenserlebnis war oft mit prächtigen Speisesälen, feinem Porzellan, Kristallgläsern und silbernem Besteck verbunden.
Die gehobene europäische Gastronomie um 1860 war ein Spiegelbild ihrer Zeit: eine Synthese aus traditioneller Handwerkskunst, neuem Luxus und dem Aufkeimen erster Ansätze einer modernen Küchenorganisation. Es war eine Epoche, in der Essen nicht nur Nahrungsaufnahme, sondern ein zelebriertes Kunstwerk und ein gesellschaftliches Ereignis war.
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