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Die Schatzsuche für den Gaumen: Warenbeschaffung für Restaurants im Moskau des 19. Jahrhunderts

Stellen Sie sich vor: Moskau im Jahr 1860. Eine pulsierende Metropole, ja, aber ohne die Infrastruktur, die wir heute als selbstverständlich erachten. Ein Koch wie Lucien Olivier, der in seinem Restaurant „Hermitage“ Gerichte von europäischem Spitzenformat anbieten wollte, stand vor ganz anderen Herausforderungen als seine modernen Nachfolger. Die Beschaffung der Zutaten war keine Frage des Bestellens beim Großhändler, sondern oft eine wahre logistische Odyssee.

Die Abhängigkeit von Saison und Region

Die größte Einschränkung war die absolute Abhängigkeit von Saison und regionaler Verfügbarkeit. Importe aus der Ferne waren Luxus und extrem aufwendig:

  • Saisonale Küche: Der Speiseplan eines Restaurants richtete sich stark nach dem, was die Jahreszeit hergab. Erdbeeren im Winter? Undenkbar, es sei denn, man verfügte über teure Treibhäuser oder importierte sie zu astronomischen Preisen.
  • Regionale Produkte: Die meisten frischen Zutaten kamen aus der näheren Umgebung Moskaus. Fleisch, Gemüse, Obst und Milchprodukte wurden von lokalen Bauernhöfen und Märkten bezogen.

Die Akteure der Beschaffung: Märkte, Händler und eigene Logistik

  1. Die Märkte – das Herzstück der Versorgung:
    • Zentrale Marktplätze: Große Städte wie Moskau hatten ausgedehnte zentrale Märkte (wie die späteren Handelsreihen am Roten Platz), auf denen Bauern und Händler ihre Waren feilboten. Für ein Spitzenrestaurant bedeutete dies oft, dass der Chefkoch selbst oder ein vertrauenswürdiger Einkäufer frühmorgens persönlich auf dem Markt anwesend sein musste.
    • Qualitätskontrolle vor Ort: Hier wurde die Qualität von Fleisch, Fisch, Gemüse und Obst direkt geprüft. Frische war entscheidend, da es kaum Kühlmöglichkeiten gab. Beziehungen zu bestimmten Händlern waren Gold wert, um die besten Stücke zu sichern.
    • Spezialmärkte: Es gab auch spezialisierte Märkte für bestimmte Waren wie Getreide, Fisch oder Geflügel.
  2. Direkte Lieferanten und Verträge:
    • Langfristige Beziehungen: Für hochwertige und regelmäßige Produkte, insbesondere Fleisch, Geflügel oder bestimmte Gemüsesorten, pflegten Restaurants oft langfristige Beziehungen zu ausgewählten Bauernhöfen oder Jägern in der Umgebung. Diese lieferten dann direkt an das Restaurant.
    • Spezialitäten: Für besonders edle Produkte wie Wild (Haselhuhn, Rebhuhn für den Original-Olivier) oder Flusskrebse waren oft direkte Verträge mit Jägern, Fischern oder Züchtern notwendig.
    • Gutsbesitzer: Reiche Gutsbesitzer konnten auch eigene Produkte (Fleisch, Gemüse aus eigenen Gärten) an Restaurants liefern oder für diese produzieren lassen.
  3. Importe und Delikatessenhandel:
    • Teure Luxusgüter: Zutaten wie Trüffel, Kaviar, bestimmte Gewürze oder exotische Früchte mussten importiert werden. Dies geschah über spezialisierte Kolonialwarenhändler oder Delikatessenhändler, die über Netzwerke zu europäischen Häfen und Handelshäusern verfügten.
    • Lange Transportwege: Der Transport erfolgte per Schiff (über Häfen wie St. Petersburg), später auch zunehmend per Bahn. Diese Wege waren langwierig, teuer und risikoreich. Die Ware musste entsprechend verpackt werden (z.B. in Fässern, Salzlake, Eis).
    • Konservierung: Haltbarkeit war hier ein Schlüsselproblem. Viele Importwaren waren getrocknet, gesalzen, geräuchert oder in Alkohol/Essig eingelegt. Frische Produkte waren eine absolute Seltenheit und ein Statussymbol.
  4. Die eigene Logistik des Restaurants:
    • Fahrzeuge und Personal: Ein größeres Restaurant wie das „Hermitage“ besaß eigene Pferdefuhrwerke und Personal (oft Gehilfen oder Lehrlinge), die täglich für den Einkauf und den Transport zuständig waren.
    • Lagerung: Die Lagerung war eine Kunst für sich. Kühlschränke gab es nicht. Stattdessen wurden Eisblöcke (im Winter aus Flüssen und Seen gewonnen) in speziellen Eiskellern oder Gruben gelagert, um leicht verderbliche Waren für eine gewisse Zeit kühl zu halten. Trockene, kühle und belüftete Speisekammern waren essenziell. Wurzelgemüse und Äpfel wurden in Erdmieten oder kühlen Kellern gelagert.

Herausforderungen der Beschaffung:

  • Verderblichkeit: Die größte Herausforderung war die schnelle Verderblichkeit von frischen Lebensmitteln. Die Lieferketten mussten extrem kurz sein.
  • Qualitätsschwankungen: Die Qualität der Produkte konnte stark variieren, je nach Witterung, Ernte und Transportbedingungen.
  • Preisschwankungen: Preise waren weniger stabil und stark von Angebot und Nachfrage, aber auch von externen Ereignissen (Missernten, Kriege) abhängig.
  • Hygiene: Die Hygienebedingungen waren verglichen mit heute sehr rudimentär, was die Lagerung und Verarbeitung zusätzlich erschwerte.
  • Mangelnde Standardisierung: Es gab keine standardisierten Größen, Gewichte oder Qualitätsklassen wie heute. Jede Lieferung war einzigartig.

Die Warenbeschaffung im 19. Jahrhundert war für ein Spitzenrestaurant wie das von Lucien Olivier ein täglicher Kraftakt, der enormes Fachwissen über Lebensmittel, ein weitreichendes Netzwerk zu Lieferanten und eine ausgeklügelte interne Logistik erforderte. Es war eine Welt, in der der Wert eines Gerichts nicht nur in der Kochkunst, sondern auch in der schieren Fähigkeit lag, die nötigen, frischen und hochwertigen Zutaten überhaupt zu beschaffen. Ein wahrer Schatz, den der Koch erst heben musste, bevor er ihn auf den Teller bringen konnte.

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